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In den Kellern des Vatikans

„..как написаль уже последний раз“ - … wie ich letztes Mal schon schrieb,“ übersetzte Manuela halblaut für sich. Sie seufzte. Das war also gar nicht der Anfang; es gab mindestens noch einen älteren Bericht.

Manuela nieste heftig. Angesichts der Staubwolken, die ihr beim Öffnen der Aktendeckel entgegen schlugen, bekam sie ihren Heuschnupfen überhaupt nicht mehr unter Kontrolle.

„Gesundheit, mein Kind, " rief ihr gutgelaunt der alte Archivar zu. Als Antwort stöhnte Manuela entnervt. Jetzt saß sie schon seit drei Tagen in diesem Keller, und hatte doch höchstens ein Drittel der Papierberge gesichtet. Sie schaute mit gerunzelter Stirn die hohen Regalreihen entlang, die sich in den Tiefen der Gewölbe verloren: schier endlos und alles noch verstaubter als im letzten Archiv: Im Gegensatz zu den Kommunisten schien sich hier niemals jemand mit der Vergangenheit befasst zu haben. Wenigstens gab es diesen alten Mönch, der wusste, wo welche Unterlagen zu finden wären.

Die Finanzierungszusage der EU hatte Türen geöffnet, die seit 30 Jahren oder länger fest verschlossen gewesen waren. „Der Einfluss der Supermächte auf die europäische Innenpolitik der 70er Jahre" war der Titel ihres ehrgeizigen Projekts. Faktisch würde aber wohl die italienische Innenpolitik im Mittelpunkt stehen. Der Rest Europas war in den Jahren nach dem Zerfall des Ostens schon weitgehend abgegrast worden und uninteressant.

Dieser Heuschnupfen raubte ihr noch den letzten Nerv! Es war eine Schnapsidee gewesen, die Vorab-Sichtung ohne Sascha zu machen. Doch keiner von ihnen hatte damit gerechnet, dass es ausgerechnet in den Archiven des Vatikans eine derart große Menge russischen Materials geben könnte. Nun war es erst einmal nicht zu ändern: Sascha saß jetzt in der heißen Sonne Menorcas und sie im langen Schatten der Geschichte. Wie sollte sie mit ihren mageren Sprachkenntnissen entscheiden, was wichtig wäre?

Knurrend fuhr sie fort, den Bericht durchzublättern. Sie suchte nach Schlagworten und Namen, las nur selten einen ganzen Satz; diese schrecklichen Partizip-Konstruktionen waren für sie sowieso unübersetzbar. Zum Glück gab es hin und wieder Randkommentare in englischer oder italienischer Sprache.

Nach einer Viertelstunde, in der sie immer wieder auf die Namen Andreottis und Moros gestoßen war, begann sie zu hoffen, dass in diesem Aktenordner eine Menge Material zum „historischen Kompromiss", der von Aldo Moro geförderten Koalition zwischen Kommunisten und Christdemokraten zu finden sei. Sascha würde ihr sagen können, ob es nur ein Lagebericht war, oder ob sie hier neue Informationen über ein aktives Eingreifen einer der Supermächte finden würden. Wie einst das Attentat auf Kennedy blieb auch die Ermordung Aldo Moros ein beliebtes Objekt von Spekulationen und wilden Verschwörungstheorien, solange nicht alle Hintergründe aufgeklärt waren.

Giorgio Chemelli jedenfalls hatte seinen Bericht an diesen Andrej Michailowitsch mit Wissen der offiziellen Stellen verfasst; andernfalls wäre er nicht ins Vatikan-Archiv gelangt. Manuela blätterte schniefend weiter und überflog geschwind eine Seite nach der anderen. Ein erneuter Niesanfall ließ sie innehalten. Während sie in ihrer Handtasche nach einem neuen Taschentuch tastete, blieb ihr Blick auf der gerade aufgeschlagenen Seite hängen. Dick unterstrichen, sprangen sie die Worte Жиованни Фалконе an. Zwei Seiten vorher war der Name schon einmal aufgetaucht; da hatte sie sich über die russische Lautschrift-Schreibweise amüsiert und weiter geblättert. Sie wusste wohl, wer Giovanni Falcone gewesen war, aber für ihr Thema spielte er keine Rolle.

Sie blätterte weiter, aber ihre Gedanken waren bei dem unterstrichenen Namen zurückgeblieben: An den Rand der Seite hatte jemand in winzigen Buchstaben esito fatale geschrieben. Manuela hätte zu gerne gewusst, ob die Bemerkung nach dem Mord oder schon vorher eingefügt worden war.

Der nächste Niesanfall unterbrach ihr Grübeln. Einen Moment zögerte sie; dann schlug sie zurück. Zuerst an die Stelle, an der Falcones Name das erste Mal genannt wurde, dann auf die Seite mit der handschriftlichen Anmerkung: war das nur ein Kommentar oder war es ein kaum verhüllter Mordbefehl?

Es spielte keine Rolle für ihr Thema. Aber die Neugierde hatte sie gepackt und sie versuchte, sich einzulesen. Aber ihr Wortschatz reichte nicht, um alle Einzelheiten zu übersetzen. Was sie verstand, war, dass Falcone bei seinen Ermittlungen anscheinend auf Verbindungen der Mafia zur Loge P2 gestoßen war. Aber das war ja nichts Neues. - Rätselhaft blieb vor allem, warum es in diesem Bericht plötzlich seitenlang um Falcone ging.

Manuela starrte Löcher in die Luft.

Nach einer Weile fiel dem Archivar ihre Regungslosigkeit auf. Er blickte von seinem Schreibtisch hoch und sah sie an: „Was ist, Mädchen?"

„Ich komm gerade nicht weiter," antwortete sie. Sie nieste. Als sie sich die Nase geputzt hatte, fragte sie zögernd: „Pater, Sie können nicht zufällig auch russisch?"

„Eigentlich schon, doch ein bisschen eingerostet. Aber vielleicht reicht es für deine Zwecke."

Er nahm sich seinen Schreibtischstuhl und setzte sich neben sie: „Lass mal sehen!"

„Vor allem möchte ich verstehen, welchen Zweck Chemellis Exkurs über Falcone hatte."

Der Archivar begann, die drei Seiten zu lesen, die Manuela ihm zeigte. „Also zuerst wird zusammengefasst, wie Falcone selber die Zusammenarbeit zwischen Mafia und Loge sieht; sowohl gemeinsame Geschäfte wie Gesetzesinitiativen. Im Zentrum stehen Infrastrukturprojekte für den Süden. Aber das ist ja nicht dein Thema." … „Aber das vielleicht: Chemelli kommentiert, welche Bedeutung es hätte, wenn dieses Interessengeflecht an die Öffentlichkeit gebracht wird."

„Ach nein," bremste Manuela: „Das ist ja auch bloß Innenpolitik!"

„Das bezweifle ich. Chemelli schreibt: ‚Wenn es bekannt würde, dass einflussreiche christdemokratische Politiker entsprechend der Weisungen der Mafia und der Cosa Nostra handeln, wäre ihr Führungsanspruch vermutlich auf lange Zeit delegimitiert und in der DC könnten sich die Befürworter der Koalition mit den Kommunisten durchsetzen. Daher, verehrter Genosse Michailowitsch, wäre unseren Freunden in Moskau zu raten, geeignete Maßnahmen zu ergreifen.‘ Also?"

Manuela nickte schniefend: „Es gab einige in der KPdSU, die damals gegen den Historischen Kompromiss waren und lieber auf eine Zuspitzung der Klassenkämpfe setzten. – Doch ja, der Bericht ist wirklich interessant."

Jeden weiteren Gedanken behielt sie lieber für sich: ‚Chemelli als Maulwurf des Vatikans bei den Russen stiftet den sowjetischen Botschafter zum Mord an Falcone an? Die Mafia als Handlanger des KGB?‘

© Annemarie Nikolaus, September 2001

 

 

Copyright © 2001 Annemarie Nikolaus
Stand: 16/01/07