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Justiz-Intrige                                            

 

 

 

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Die Mühlen der Justiz

Der Luzerner Stadtarzt Corragioni knallte dem Schultheiß eine schmale Akte auf den Sekretär. „Hier habt Ihr Eure Leiche, Herr Am Rhyn. Erwürgt. Der Mann war schon tot, als er in die Reuss fiel."

„Ach, haben wir es diesmal exakt?" Karl Am Rhyn sah nicht auf, sondern schnitzte konzentriert an seiner Schreibfeder weiter. Der tote Landstreicher hatte keine Eile mehr.

Michael Corragioni hob die Augenbrauen. „Worauf wollt Ihr hinaus?"

„Über den Schultheiß Keller konntet Ihr weiland keine Feststellung treffen." Am Rhyn beobachtete Corragioni aus den Augenwinkeln, während er fortfuhr. „Und grad jetzt bekommen die Gerüchte neue Nahrung, mein Vorgänger sei nicht versehentlich in der Reuss ertrunken."

Corragioni zuckte die Achseln. „Die tauchen mit jedem Toten auf, den wir rausfischen." Einen Augenblick wartete er auf eine Entgegnung, aber Am Rhyn legte die Feder weg und begann in der Akte zu blättern. Er hatte nicht die Absicht, seine Bemerkung näher zu erklären.

„Pfaffenbrut!", murmelte er, als der Stadtarzt gegangen war. Dann rief er nach seinem Sohn. „Toni, hat der Amtmann in Glarus inzwischen nähere Auskünfte über diese Diebin geschickt?"

„Man schickt uns keine Auskünfte weiter, sondern die Weibsperson selber und ihren Bruder auch zur Einvernahme. Es ist alles sehr dubios, denn die Angaben, die dieses Mensch zu den Umständen der Tat gemacht hat, passen nicht zu dem, was wir mitgeteilt haben."

Sobald Clara Wendel und der Krusihans im Gefängnis zu Luzern eintrafen, ließ der Schultheiß sie zum Verhör bringen. Er erwartete sie in einem ungeheizten Raum im Souterrain des Gerichts. Der Landjäger führte ihm eine junge Frau in kurzärmeligem Trachtenkleid vor. Die braunen Augen hatten trotz der langen Haftzeit ihren Glanz behalten. Auch war ihr schwarzes Haar sorgfältig zu einem langen Zopf geflochten. Nur eine aufgesprungene Lippe und ein bläulichgelber Bluterguss unter dem rechten Auge beeinträchtigten das ebenmäßige Gesicht.

„Sie hat gelogen", fuhr Am Rhyn sie ohne Umschweife an. „Auch der Dümmste fischt nicht des Nachts im Regen."

Clara senkte den Blick. „Ich hab’ getreulich berichtet, was ich selber gehört habe über jenen Vorfall."

„Sie hat angegeben, sie wäre damals dabei gewesen."

„Aber ich kann mich nicht mehr recht erinnern. Was unterscheidet denn ein Kind, was es selbst erlebt und was ihm erzählt wird."

„So kann es auch nicht unterscheiden, ob es wahr oder gelogen ist," bemerkte der Schultheiß. Er erhob sich von seinem Schreibtisch und stellte sich dicht vor sie hin.

Clara wich seinem Blick aus und presste ihre Hände ineinander.

„Nun?"

„Hätt’ ich meinen eigenen Bruder angegeben, wenn’s nicht wahr wäre?"

„So erzähl sie mir doch einmal, wie es richtig war."

„Ich hab’ schon alles gesagt, auf anderes kann ich mich nicht besinnen."

„So werden wir ihrer Erinnerung aufhelfen." Der Schultheiß winkte dem Wachmann und dieser trat mit erhobenem Knüppel näher.

Clara schrie auf und hob die Arme vors Gesicht. „Schlag er mich nicht; ich sage ja alles, was ich weiß."

Am Rhyn wandte sich ab, griff nach seiner Pfeife und begann sie gemächlich zu stopfen. Der Wachmann zog ihr den Knüppel zwei Mal über den Rücken. Sie wimmerte und fiel auf die Knie.

„Tu sie den Mund auf; dann hat sie Ruh", sagte der Schultheiß, ohne sich umzudrehen.

„Mich friert", sagte sie leise. Sie hockte sich auf den steinernen Fußboden und schlang die Arme um die Knie.

„Was hat sie gelogen?", fragte Am Rhyn. „Denn gelogen hat sie."

Der Wachmann hob erneut seinen Knüppel; Clara sah aus den Augenwinkeln zu ihm auf und begann zu zittern. „Ich mein, ein gewisser Schneider, Joseph oder Aloys Meyer, der hat einen Groll wider den Schultheißen gehabt. Der Hansi war schon auf mehrere Tage in der Gegend und hat ausbaldowert, was ansteht. Ich mein, er wusste, worauf er wartet. Am nämlichen Tage waren wir mit der Mutter in Littauen und haben dort ein Feuer gelegt. Dann sind wir zurück; der Hansi hat schon auf uns gewartet und wir sind weiter. Und dann ist das eben passiert, wie ich’s berichtet hab."

Er legte die Pfeife beiseite, um ihre Reaktionen zu beobachten. „Was kommt sie jetzt mit einem Schneider?" Das war eine neue Wendung.

„Ich mein, der Hansi hat einen Anstifter gehabt. Was soll mein Bruder denn mit dem Schultheiß haben?

„Was soll der Schneider mit dem Schultheiß haben?"

Clara zuckte die Achseln und lächelte Am Rhyn ins Gesicht. „Ich mein ja bloß."

„So hat sie sich das erfunden!" Er trat dicht auf sie zu, sodass ihr sein Gehrock die Sicht nahm. „Wen deckt sie?"

Sie senkte den Kopf. Er verstand kaum, was sie murmelte. „Ich hab doch alles angegeben, was ich weiß. - Ich hab’s mir halt denkt. Einen Grund wird er doch gehabt haben, der Schneider."

„Eben!" Am Rhyn beugte sich vertraulich zu ihr herab. „Hatte der vielleicht auch einen Anstifter? Hast du einmal was gehört, dass du das meinen könntest?"

„Ich weiß nicht. Ich muss mich über diese Sache erst näher besinnen."

„So besinne dich." Am Rhyn ließ sie mit dem Wachmann allein.

Am Abend war er von seiner Schwiegertochter zum Essen eingeladen. Er bemerkte kaum, was er aß und wartete nur darauf, sich mit Toni in die Bibliothek zurückzuziehen.

„Das Weib redet, was ihr in den Sinn kommt, aber dazwischen verrät sie manches doch."

Toni warf ihm einen erwartungsvollen Blick zu, während er den Cognac und zwei bauchige Gläser aus der Vitrine nahm.

Am Rhyn nahm ihm ein Glas ab und wartete, bis eingeschenkt war. Er schnupperte am Cognac und lächelte. „Ich bin sicher, wir sind einem Komplott auf der Spur. Endlich werden wir erfahren, wie der Keller zu Tode kam."

„Wir haben nie auch nur ein Indiz gefunden, dass an den Gerüchten etwas wahr sein könnte."

„Und doch war es Mord!" Er stellte sein Glas so heftig war den Tisch, dass der Cognac überschwappte. „Keller hatte sich von Anfang an auf die Seite Napoleons gestellt und wehrte sich beharrlich dagegen, dass die Mediationsakte durch eine konservative Verfassung ersetzt wurde. Er war unser Bollwerk gegen die Ultramontanen." Am Rhyn stopfte mit heftigen Bewegungen seine Pfeife. „Du hast nie erlebt, wie Corragioni und der päpstliche Nuntius geiferten, wenn er gegen die Restauration durch den Wiener Kongress wetterte."

„Aber deswegen brauchten sie Kellers Tod noch lange nicht. Schau dir nur an, wie weit wir heute von einem Bundesstaat entfernt sind."

„Warum hat der Papst den Nuntius so plötzlich zur römischen Kurie abberufen? Er hat doch Testaferratas konservative Kirchenpolitik unterstützt."

„Als Testaferrata abberufen wurde, hat Keller aber noch gelebt."

„Na und? Die Pfaffen haben lange Arme." Am Rhyn schüttelte den Kopf. „Was bist du naiv." Konnte sein Sohn nicht mal zwei und zwei zusammenzählen?

„Nein, Vater. Ich glaube, du verrennst dich da in etwas, womit du dir am Ende nur selber schadest. Wenn du dich irrst, bekommen die Ultramontanen erst recht Oberwasser."

„Ich irre mich nicht." Am Rhyn erhob sich. „Wir brauchen nicht weiter zu reden. Du wirst schon sehen."

Clara war bleich, als sie am nächsten Morgen wieder vorgeführt wurde. Ihre blutverkrustete Haube bedeckte nur halb eine frische Platzwunde am Haaransatz.

„Was hat sie zum Tode Kellers inzwischen anzuzeigen? Sprech sie nur frei heraus und schone niemanden."

„Soll ich den Hergang noch einmal aufsagen?", fragte Clara.

„Aber nein; da ist das eine oder andere Detail nicht von Bedeutung." Am Rhyn stand auf und führte Clara ans Fenster. Er legte den Arm um sie und wies auf das Patrizierhaus an der Reuss-Brücke, neben dem sich die beiden Zwiebeltürme der Jesuiten-Kirche im Wasser spiegelten. „Weißt du, wer dort wohnt? Hast du schon mal von jemandem gehört, der mit den Bewohnern zu tun hatte?"

Sie blickte vom Haus zur Kirche und wieder zurück. Dann schüttelte sie den Kopf. „Das sind feine Leute. Solche kenne ich nicht."

„Dort ist vor acht Jahren eingebrochen worden."

„Ich war gewiss nicht dabei. Aber für die meinigen leg ich nicht die Hände ins Feuer. Vielleicht fällt mir etwas ein, wenn der Herr Schultheiß mir sagt, was gestohlen wurde."

„Hast du vielleicht einmal gehört, dass einer entdeckt wurde beim Einbruch und doch nicht angezeigt wurde? Er beobachtete sie aus den Augenwinkeln.

„Ja freilich … Aber das kostet immer was."

„Ist das deinem Bruder auch passiert?"

„Dem Hansi nicht, aber dem Sepp, was mein Schwestermann ist."

„Was weißt du davon?"

„Das ist ein braver Kerl, der Sepp."

Am Rhyn zog die Mundwinkel herab.

„Doch, doch", beteuerte Clara schnell. „Vom Militär, wo er ein gutes Auskommen hatte, hat er seinen Abschied genommen, nur weil er den Kindern ein Vater sein wollte. Und klug ist er; der hat die halbe Welt gesehen." Sie blickte auf den Fluss, zerrte an ihrem Zopf. Dann sah sie Am Rhyn mit wachsamen Augen an: „Ich mein, wenn einer wo einbricht und der Hausherr entdeckt ihn und lässt ihn laufen, dann ist das doch kein Verbrechen gewesen?"

„So einer nicht verklagt wird, kann man ihn nicht richten. Also erzähl."

„Mehr kann ich dazu nicht sagen. Ich weiß es auch nur von der Barbara. Ganz verjagt sei er zurückgekommen, hat die Schwester gesagt." Clara lehnte sich gegen das Fenster und schloss die Augen. „Einen Hunger hab ich."

„Das wird sie gewohnt sein. Erzähl sie nur, was sie gehört hat."

Sie ließ sich auf den Boden sinken. „Mir ist ganz elend."

Der Schultheiß ließ sich nicht beeindrucken. „Wenn ihr wieder etwas eingefallen ist, so reden wir weiter." Er wandte sich zur Tür. „Mahlzeit", grüßte er den Wachmann im Hinausgehen.

Am Rhyn stürmte ins Büro seines Sohnes. „Die Weibsperson hat das Haus erkannt!" Er strahlte Toni an. „Ihr Schwager ist von Corragioni überrascht worden. Aber der hat ihn laufen lassen. Ich erinnere mich noch genau an den Vorfall: Der Stadtarzt hat kurz vor Kellers Tod einen Einbruch angezeigt, konnte aber nichts angeben, was gestohlen wäre."

Toni steckte seine Feder ins Tintenfass zurück, faltete die Hände und stützte seinen Kopf auf. Er musterte seinen Vater und sagte kein Wort.

Am Rhyn ließ sich in einen Sessel fallen. „Die Schlinge zieht sich zusammen. Pfaffenbrut, elende."

„Hat die Wendel das ausgesagt?"

„Zugegeben hat sie, dass der Twerenhold einmal gerade noch davon gekommen ist. Aber sie hat Angst, man könnte es ihm heute noch vorwerfen; da ist sie nicht rausgerückt mit der Sprache."

Toni stand von seinem Schreibtisch auf und setzte sich neben ihn auf die Lehne. „Vater, du verrennst dich! Twerenhold ist erst 1820 aus den Niederlanden zurückgekommen."

„Dann hat er eben einen Urlaub gut genutzt, nicht nur fürs Kinder-machen." Am Rhyn lachte dröhnend über seinen Witz. „Jedenfalls, nach dem Einbruch hatte der Stadtarzt ihn in der Hand; das ist ganz klar."

Toni seufzte. „Du hast keinen Beweis; für nichts. Und nicht einmal eine Aussage von dieser Person. Und mit ihrem schlechten Leumund ist sie kein gültiger Zeuge, schon gar nicht für sich allein."

„Die Zeugen werden sich finden, wenn sie erst alles angegeben hat, was sie weiß. Ihren Bruder haben wir schon; den Schwager kriegen wir noch. Und den Schneider werde ich auch vorladen; der ist ganz unbescholten."

„Hat sie den Schneider nicht als Anstifter angezeigt?"

„Man darf dieser Person nicht so viel glauben", brummte Am Rhyn. Er ärgerte sich über Tonis endlose Einwände. „Ich hab’ schon immer gedacht, dass der Corragioni dahinter steckt; jetzt kann ich es endlich beweisen. Der kommt mir nicht mehr aus!"

Das nächste Verhör ließ der Schultheiß mit Prügel beginnen. Als Clara nur noch wimmerte, griff er ihr in den Zopf und zerrte sie wieder ans Fenster. „Langsam ist es zu Ende mit meiner Geduld. So geb sie zu, was sie zu dem Einbruch da drüben zu sagen weiß."

„Ich war nicht dabei."

„Vor zwei Tagen hat sie ausgesagt, sie war mit ihrer Mutter in der Gegend auf Diebstour. Und der Bruder hat schon gewartet. Wo waren der Schwager und die Schwester in der Zeit?"

„Der Sepp war nicht da!"

„Hat er mal den Namen Corragioni genannt? Weiß sie, wer das ist?"

„Ja, das ist der Stadtarzt. Die Landjäger haben die Barbara damals vorgeführt."

„Sie weiß also doch, wer dort drüben wohnt!"

„Ich war nicht dabei!"

„So will sie heute wieder alles abstreiten? Hat sie noch nicht genug?"

Der Wachmann verstand die Frage und schlug erneut zu. Clara schluchzte auf und stürzte gegen die Wand.

„Also? Mit wem hat sich der Sepp über den Stadtarzt ausgelassen?"

„Er hat mal zum Hansi gesagt, das sei ein Herr. Nicht so wie die anderen, die die Barmherzigkeit Gottes bloß auf den Lippen tragen."

„Was sollte das heißen?"

„Ich weiß nicht." Der nächste Schlag ließ ihre Platzwunde wieder bluten. „Ich mein, er war ihm dankbar."

„Und dafür mochte sich der Schwager gefällig zeigen? Und hat den Bruder gleich mit eingespannt? So meint sie das, nicht wahr?"

Clara machte eine Kopfbewegung, die Am Rhyn als Nicken deutete..

„Und dann hat der Hansi den Keller in die Reuss gestoßen. Das war doch der Bruder, hat sie ausgesagt, der sich dazu anstiften ließ, nicht wahr?" Er zerrte sie hoch und stieß sie gegen das Fenster.

Clara schwieg.

„Hat sie den Bruder angegeben oder nicht?"

„Ja schon, aber …"

„… aber es war der Twerenhold? Hat sie ihren Bruder bloß angezeigt, weil der eh gehängt wird?

„Nein! Der Schwager hat niemanden umgebracht."

Der Schultheiß ließ sie stehen und suchte den Amtmann auf.

„Lasst den Corragioni festsetzen. Die Wendel hat gestanden, dass er ihren Schwager zum Mord an Keller erpresst hat." Vom Laufen erschöpft ließ sich der Schultheiß in einen Sessel fallen.

„Die Aussage einer Diebin zählt nicht. Karl, darauf kann ich nicht ein angesehenes Mitglied der Tagsatzung festnehmen lassen.

„Wir brauchen auch das Geständnis der Täter; das weiß ich wohl. Es wird sich schon finden. Wir haben den Bruder ja schon."

„Dann kommt wieder, wenn Ihr das Geständnis habt."

Am Rhyn sprang auf; er wurde laut. „Aber der Corragioni macht sich aus dem Staub wie damals der Nuntius, wenn er merkt, dass wir ihm auf der Spur sind."

„Wie kommt Ihr jetzt auf den?"

„Als der neue Papst die Jesuiten wieder zugelassen hat, wollte Testafarrata sie nach Luzern zurückzuholen. Keller hat es damals verhindert."

„Und dabei ist es auch geblieben. Es hatte also niemand einen Vorteil von seinem Tod."

Das weiß vorher doch keiner. Seid nicht so starrköpfig"; brüllte er. „Lasst Corragioni festsetzen, bevor es zu spät ist."

Der Amtmann sah ihn gleichmütig an. „Bringt mir das Geständnis des Mörders. Dann könnt Ihr ihn haben."

***

Der katholische Sanitätsrat Michael Leodegar Corragioni d’Orelli, zu jener Zeit Mitglied des großen Raths und des kleine Raths des Kantons Lucern, wurde 1826 der Anstiftung zum Mord am Schultheiß Franz Xaver Keller angeklagt und gemeinsam mit der Landfahrersippe der Clara Wendel vor Gericht gestellt. Er wurde freigesprochen.

© Annemarie Nikolaus, September 2004

 

 

Copyright © 2001 Annemarie Nikolaus
Stand: 27/12/04