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Der Löwe

„Uaah", brüllt der Löwe; „uaah, uaah." – „Baah", antwortet das kleine Mädchen, strahlend vor Begeisterung. Sie stellt sich auf den Stuhl, um dichter an den Monitor heranzukommen. Der Spielzeuglöwe, den sie in ihrer Hand hat, drückt seinen großen Kopf an die Scheibe und gibt dem MGM-Löwen einen dicken Kuss.

Als Caterina zweieinhalb Jahre alt war, hatte sie den Löwen im italienischen Fernsehen kennen gelernt, als Vorspann zu den allabendlichen Tom-und-Jerry-Cartoons. Doch als der Sommer vorüber war, wurde die Reihe beendet. Caterina hatte gerade verstanden, dass der Löwe nur zu ganz bestimmten Zeiten kommt und nicht darauf wartet, ob ein kleines Mädchen schon bettfertig ist oder nicht. Sie hatte auch gelernt, dass man in der Programmzeitung nachschauen muss, wann er kommt – und nun stand er so viele Tage gar nicht im Programm…

Da kam Caterinas Mutter auf den Gedanken, den Löwen im Internet zu suchen. Natürlich fand sie ihn.

Zwar hat er einen Stimmfehler und klingt ein bisschen heiser. Aber wenn er ordentlich laut und anhaltend brüllt, gibt es sogar ein Echo, und dann ist er noch viel beeindruckender als der Löwe im Fernsehen. Und manchmal kommt sogar noch ein zweiter hinzu. Aber das Schönste am Löwen im Computer ist, dass er zu allen Tageszeiten kommt, und oft lange genug bleibt, um sich mit Caterinas eigenen großen und kleinen Löwen zu unterhalten.

Caterina liebt den Löwen; oft fragt sie gleich morgens während des Frühstücks nach ihm. Aber ein bisschen fürchtet sie sich auch vor ihm: wenn sie weiß, dass er da im Wohnzimmer vom Monitor herunterschaut, geht sie nicht alleine den Tisch decken. Zuerst muss Mama den Löwen schlafen schicken. Manchmal ist es auch besser, den Löwen ganz fortzuschicken und den Computer auszumachen. Dann ist Caterina sicher, dass er nicht plötzlich wieder aufwacht und losbrüllt, während sie mit ihm alleine ist.

Langsam, ganz langsam gelingt es ihr aber, ihn ein wenig zu zähmen. Caterina weiß jetzt ganz genau, wie sie ihn dazu bringen kann, lauter oder leiser zu brüllen oder ganz stille zu sein: Wenn sie sich auf den Stuhl stellt, reicht sie an die Schalter am Lautsprecher heran.

Wenn sie die Maus dann ein wenig hin- und herschiebt, bewegt er seinen Kopf, öffnet das Maul und brüllt los. Das ist allerdings ein ziemlich schwieriges Unterfangen, denn mit dreieinhalb Jahren fehlt es doch noch an der nötigen Gelassenheit, um dabei langsam und vorsichtig zu Werke zu gehen. Meist unterstreichen wilde Gesten Caterinas Begeisterung; und der Cursor auf dem Monitor landet weit abseits des Löwen.

Sie hat inzwischen auch ganz gut verstanden, dass sie nicht auf den Maus-Tasten herumklicken soll, obwohl Mama das doch auch tut, um den Löwen schlafen zu schicken. Wenn sie selber aber auf die Maus-Tasten drückt, passieren merkwürdige Dinge auf dem Bildschirm und Mama macht ihr dann mit anklagender Stimme Vorwürfe.

Aber probieren muss sie es trotzdem immer wieder: Eines Tages wird sie nicht mehr auf Mama warten müssen, sondern der Löwe kommt und geht, wann sie es will.

Ó Annemarie Nikolaus, März 2001

 

Copyright © 2001 Annemarie Nikolaus
Stand: 16/01/07